Lauter gute Erkenntnisse mittels einer Krise - Episode 2

Wir befinden uns in der zweiten Runde Ausgangssperre. Unsere Reitschule und unser Gästehaus sind weiterhin geschlossen.
Reiten mag zwar als Individualsport gelten, doch organisiertes Training bleibt verboten. Auch für mein Unternehmen bedeuten diese Einschränkungen einen herben Schlag. Ich fühle mich dennoch in meiner Existenz, sowohl gesundheitlich als auch wirtschaftlich, nicht so bedroht wie viele andere Menschen. Ich gestehe jedem sein Recht auf seine individuelle Reaktion zu und möchte keinesfalls unsensibel gegenüber dieser Realität auftreten. Dennoch bestehe ich darauf, mich auf alle positiven direkten oder indirekten Effekte dieser radikalen Veränderungen in meinem Mikro- wie auch Makrokosmos zu besinnen.
Von der Zerrissenheit der Momente
„There’s a crack in everything. That’s how the light gets in.”
(Leonard Cohen)
Kurz nachdem wir das Osterferienprogramm abgesagt hatten, trat ein bemerkenswerter Effekt ein. Die Reitanlage war wie leergefegt, die erste Aufregung hatte sich gelegt und eine seltsame Variante von Alltag kehrte ein. Ich ritt im strahlenden Sonnenschein unter einem wolkenlos blauen Himmel. Könnte das Leben schöner sein? Und immer wieder wurde mein Gefühl zu und in diesem Augenblick vom Bewusstsein darüber unterbrochen, warum alles gerade so leer ist und wie unglaublich privilegiert meine Position ist. Einerseits durfte ich Ruhe und Platz auf einer großartigen Sportanlage genießen, andererseits befanden sich lauter Reiterschüler*innen im selben Moment zuhause und konnten von meiner Realität nicht weiter entfernt sein. Erschwerend kam hinzu, dass für einige diese kleine Realitätsflucht vermutlich viel relevanter wäre als für mich. Und natürlich waren und sind nicht nur unsere Reiter*innen betroffen. Auch unsere Mitarbeiter*innen, Geschäftspartner*innen und Freunde*innen. Ganze Branchen und Industrien. So fasst dieser Gedanke innerhalb weniger Sekunden eine landesweite und schließlich eine globale Problematik. Und dann sitzt man da auf seinem Pferd, im Sonnenschein, in seiner Ponyhofblase und alles hat diesen Beigeschmack. Der Innbegriff von bittersüß.
Zeitgleich werden wir als Unternehmen unglücklich ausgebremst. Wir haben keine Einnahmen, aber laufende, hohe Ausgaben, 70 Schulpferde, die bewegt werden müssen, offene Fragen von allen Seiten, Rückzahlungspläne, besorgte Einstaller und trotz Pandemie verblüffend wenig Zeit. Zum Glück liebe ich Organisation, gute Listen, Kommunikationsstrategien und anscheinend auch Herausforderungen. Ganz schön viel Arbeit für ganz schön wenig, eher gar kein (direktes) Geld. Man könnte wirklich jammern. Gleichwohl trifft es andere härter - und dennoch bin ich immer für das Recht eines jeden, zu jammern und sich Selbstmitgefühl entgegenzubringen.
Die Coronakrise erscheint als gemeinsamer Nenner, um viele Realitäten miteinander zu verknüpfen und so sichtbar und vergleichbar zu machen. Man hat das Gefühl, alles passiert rasend schnell und auf einmal (weil plötzlich weltweite Nachrichten und Faktoren einen unmittelbaren Bezug zur eigenen Lebenswirklichkeit aufmachen) und genauso schleicht alles – als hätte jemand eine große Stopp-Taste gedrückt und die Welt hielte den Atem an. Das macht sie natürlich nicht. Die Themen, die vor dieser Pandemie da waren, sind noch immer da.
Gleichzeitig habe ich den entschiedenen Willen, die positiven Gefühle überwiegen zu lassen. Grundsätzlich. Wenn ich es schaffe, im Moment zu sein, meine Gedanken zu beruhigen; dann sitzt man da, auf seinem Pferd im Sonnenschein. Und in diesem Moment ist alles gut.
Die Zerrissenheit dieser Momente führt mir ein ums andere Mal vor, was Ambiguitätstoleranz bedeutet. So sperrig dieser Begriff erscheint, so akkurat ist er zugleich. Man spricht von Ambiguitätstoleranz, als einer Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten zu akzeptieren. Diese Uneindeutigkeit in unserer Realität halten wir fortwährend aus. Wenn wir beispielsweise die Rückständigkeit des Reitsports in der Nachhaltigkeitsdebatte beiseiteschieben und für unser Pferd die nächste Schabracke kaufen.
Je mehr Wissen wir generieren, umso deutlicher und häufiger können wir die Mehrdeutigkeiten wahrnehmen. Wir halten die Graustufen der Augenblicke aus und erkennen, sofern sie uns bewusstwerden, damit die Komplexität des Seins an. Man erhält in diesen kleinen „Bewusstwerdungen“ immer ein Training darin, sich komfortabel in unkomfortablen Situationen einzurichten. Man entscheidet sich für eine Reaktion, eine Haltung, einen Gemütszustand. Ist man sich dieser Abläufe gewahr geworden, betrachtet man sich und seine Muster quasi von außen. Man tritt einen Schritt zurück, kann Zusammenhänge neu erkennen und handlungsfähig werden. Es geht um Macht und Ohnmacht. Es geht um ein Ringen um Selbstermächtigung. Es geht hierbei auch um ein sich Sicher-Fühlen in der Unsicherheit. Wir können aktuell von Verschwörungen ausgehen, von herbeigeführten Zuständen oder auch von einem simplen Zufall. Der Zufall als Ausgangslage bedeutet auch Kontrollverlust. Wie auch immer wir uns entscheiden, welchem Gefühl wir uns hingeben: Je intensiver wir uns mit der eigenen Ambiguitätstoleranz auseinandersetzen, umso mehr kann diese auch als Effizienzverstärker wirken. Eine Situation zu akzeptieren, ohne zu resignieren, bedeutet, das eigene Unternehmen und seine individuelle Person krisenfester zu machen und optimistisch und zukunftsorientierter zu arbeiten. Und eine Auszeit im Sattel wirkt auch Wunder.